Experteninterview: 10 Jahre multimodale Schmerztherapie für Menschen mit chronischen Schmerzen
Oberärztin Dr. Katrin Empt ist seit 2013 Leiterin der Schmerzklinik am St. Franziskus-Hospital in Köln-Ehrenfeld. Mit ihrem interdisziplinären Team bietet die Fachärztin für Anästhesiologie, Spezielle Schmerztherapie und Ernährungsmedizin seit zehn Jahren multimodale Schmerztherapie für Menschen miit chronischen Schmerzen. Zu dem knapp dreiwöchigen Therapieprogramm gehören Schmerztherapie, Biofeedback, Bewegungs-, Entspannungs- und Verhaltenstherapie.
Das nachfolgende Expertengespräch greift häuftig gestellte Fragen auf. Das Interview führte Iris Gehrke.

„Der Patient ist aktiver Teil seiner Genesung“
Frau Dr. Empt, wie ist es zur Gründung der Schmerzklinik gekommen?
Vor gut zehn Jahren waren wir in der Situation, dass im Haus freie Betten zur Verfügung standen. Unser Chefarzt der Anästhesie Dr. Michael Granitzka hatte damals die Idee zur Etablierung eines stationären Angebots für chronische Schmerzpatienten. Zu dem Zeitpunkt hatten wir schon Erfahrung mit der Schmerztherapie im Haus, es gab bereits den Akutschmerzdienst. Wir haben dann 2012 alle Berufsgruppen, die man für ein interdisziplinäres Therapieangebot braucht, zu einer Arbeitsgruppe eingeladen und haben gemeinsam die Inhalte, Bausteine und Prozesse für die multimodale Schmerztherapie erarbeitet. Die Schmerzklinik ist im Sommer 2013 – damals mit sechs Patienten – gestartet.
Wie viele Patienten waren es in den letzten Jahren insgesamt?
Oh, da muss ich nachschauen! (Nachtrag: Es waren in den letzten zehn Jahren insgesamt 1.710 Patienten).
An welche Patientinnen und Patienten richtet sich das Behandlungsangebot?
Die Patienten, die wir vorrangig behandeln, haben oft Beschwerden am Bewegungsapparat. Viele haben Rückenschmerzen, Nackenschmerzen oder Arthrose. Es kommen auch Menschen mit anderen Schmerzarten wie Kopfschmerz, Migräne, Nervenschmerzen oder Erschöpfungssyndromen. Alle haben eine Gemeinsamkeit: Die bisherigen Behandlungsansätze und ambulante Therapien haben nicht bewirkt, dass die Schmerzen zufriedenstellend gelindert sind oder auch aufhören. Die Menschen leiden stark und kommen mit ihren Schmerzen nicht zurecht.
Wie äußert sich ein Leben mit chronischen Schmerzen ganz konkret?
Bei chronischen Schmerzpatienten sind die Schmerzen anhaltend oder wiederkehrend und bestimmen zunehmend den kompletten Alltag. Das Leiden kann so stark sein, dass die sozialen Beziehungen und die Arbeitsfähigkeit in Mitleidenschaft gezogen sind. Viele Schmerzpatienten werden arbeitslos oder sogar berufsunfähig. Die Entwicklung chronischer Schmerzen und persönlicher Krisen fallen zeitlich oft zusammen oder entstehen als Folge davon. Die Patienten geraten in eine Abwärtsspirale von Schmerzen, körperlichen Einschränkungen und deutlicher Verminderung der Lebensqualität.
Wie kommt es eigentlich zu chronischen Schmerzen? Gibt es Auslöser oder Primärerkrankungen?
Ja, die gibt es. Auslöser können akute Verletzungen, Unfälle oder Akuterkrankungen wie ein plötzlicher Bandscheibenvorfall sein. Chronische Schmerzen können auch aus der unzureichenden Behandlung von Akutschmerzen entstehen, zum Beispiel aus Folge einer Operation oder Verletzung. Chronisch können Schmerzen auch dann werden, wenn Patienten bei einem akuten Schmerzgeschehen nicht die Kraft, die Zeit oder die Ressourcen haben, um sich um ihre Gesundung zu kümmern. Außerdem gibt es die Schmerzen, die als Folge seelischer Verletzungen auftreten. Durch die Schmerzen wird das Leid sichtbar, welches verdrängt oder nicht ausreichend behandelt wurde. Der Schmerz hat aber dann keine körperliche Ursache. Manchmal gibt es auch Mischformen. Dies zu unterscheiden ist nicht immer einfach und erfordert ein gut ausgebildetes interdisziplinäres Team.
Ob ein Akutschmerz chronisch wird, hängt also von ganz unterschiedlichen Faktoren ab?
Ja, chronischer Schmerz ist sehr individuell. Ein gutes Beispiel ist der Bandscheibenvorfall. Zwei Patienten mit der gleichen Erkrankung können ganz unterschiedlich reagieren. Der eine geht nach wenigen Wochen wieder arbeiten; der andere wird zum chronischen Schmerzpatienten. Das liegt letztlich an den ganz unterschiedlichen Faktoren, das wir im Rahmen des „Bio-Psycho-Sozialen Modells“ zusammenfassen.
Was heißt Bio-Psycho-Soziales Modell?
„Bio“ ist das, was der Patient an Vorerkrankungen, Verschleiß, Alter und Fitnessgrad mitbringt. „Psycho“, das heißt das Wesen und mentale Verfassung des Patienten. Beim sozialen Anteil des Schmerzmodells schauen wir gemeinsam das soziale Umfeld mit Blick auf vorhandene und fehlende unterstützende Faktoren in Biografie, Familie, Freundeskreis und Beruf an. All diese Faktoren haben Einfluss darauf, ob Schmerzen chronisch werden.
Es braucht also nicht unbedingt einen schwerwiegenden Auslöser?
Wenn viele Belastungen zusammenkommen, etwa in der Familie, ein Schicksalsschlag, fortlaufender beruflicher Stress, finanzielle Schwierigkeiten, kann auch ein vergleichsweise harmloser Auslöser zur Dekompensation – also zum Zusammenbruch – führen. In der Praxis sprechen wir vom Vulnerabilitäts-Stress-Modell: Patienten halten lange viel aus, und wissen dann nicht mehr, wie und wann sie sich erholen können. Die nächste Belastung ist dann der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.
Wissen die niedergelassenen Hausärztinnen und Hausärzte genügend über chronische Schmerzen?
Inzwischen wissen die Hausärztinnen und Hausärzte immer mehr über chronische Schmerzen Bescheid. Es gibt dazu auch ausführliche Leitlinien. Demnach sollten passive Maßnahmen nur sehr zurückhaltend eingesetzt werden. Schmerzmittel und passive Therapien sind nur bei einem akuten Schmerzgeschehen hilfreich, etwa bei einem akuten Bandscheibenvorfall. Schmerzmittel, Ruhe und Wärme tun dann gut. Aber bitte nur im Akutfall! Danach sollte der Patient schnellstmöglich aktiviert werden und in eine Alltagsbewegung zurückfinden.
Kommen die Patienten zum richtigen Zeitpunkt?
Vielen Patienten, die jahrelang buchstäblich von Pontius zu Pilatus gelaufen sind, hätte man gewünscht, dass sie früher in ein interdisziplinäres Setting – zum Beispiel zu uns in die Schmerzklinik – gekommen wären. Zumindest hätte man dann den Weg deutlich abkürzen können. Wenn bei einem Patienten ein akuter Schmerz nach drei bis sechs Monaten nicht weggeht oder wenn der Schmerz immer wiederkehrt, sollten die Warnlampen angehen. In der Schmerztherapie sprechen wir von Yellow Flags. Laut Leitlinie sollten man z.B. bei akutem Rückschmerz sogar schon nach sechs Wochen bei nicht beherrschbaren Schmerzen die Risikofaktoren abklopfen. Das höchste Risiko für eine Schmerzchronifizierung ist übrigens die Unzufriedenheit am Arbeitsplatz.
Die Patienten kommen also zu spät?
Ja, viele Patienten kommen zu spät obwohl sie bereits umfassende Vordiagnostik und Therapien, die sich oft über Jahre hinziehen, hatten. Leider ist der Behandlungsansatz oft einseitig und eben nicht basierend auf dem bio-psycho-sozialen Schmerzmodell. Auch führen lange Wartezeiten für Termine zur weiteren Chronifizierung. Da hat die Corona-Zeit vielen Schmerzpatienten nicht gutgetan.
Was sagen Sie den Patienten, die in Ihre Schmerzsprechstunde kommen?
Wichtig ist es, den Patienten da abzuholen, wo er steht. Wir schauen uns daher in der Schmerzsprechstunde zunächst an, welche Therapiemaßnahmen bisher erfolgt sind und wie das Umfeld des Patienten aussieht mit all den verschiedenen Faktoren. Vor allem sprechen wir schon im Erstgespräch über realistische Ziele. Wir sagen den Patienten klipp und klar, dass sie innerhalb von drei Wochen nicht schmerzfrei werden. Realistische Ziele – das können auch Etappenziele sein – sind enorm wichtig. Nur so kann das Therapiekonzept aufgehen.
Welche Ziele sind denn realistisch?
Nehmen wir wieder das Beispiel Rückenschmerzen. Hier ist das Ziel nicht Schmerzfreiheit, sondern „Functional Restoration“, also die Wiederherstellung der körperlichen und psychischen Leistungsfähigkeit. Um die Schritt für Schritt zu verbessern, geben wir den Patienten einen Werkzeugkoffer voller Tools mit. Wie gut sich dann die Gesamtsituation für den Schmerzpatienten entwickelt, hat mit der Wirksamkeit und vor allem der Selbstwirksamkeit des Patienten zu tun. Und mit den individuellen Voraussetzungen.
Das wären beispielsweise…
Bei dem Einen kann das Behandlungsziel sein, wieder etwas länger gehen zu können, um wieder ins Cafe oder zum Einkaufen gehen zu können. Bei Jemand anderem ist es die Fähigkeit, einen Kinobesuch sitzend zu meistern. Oder das Ziel ist, den Arbeitstag so zu gestalten, dann man sich am Ende nicht schmerzgeplagt nach Hause schleppt. Diese Ziele sind wichtig in der Therapie. Es braucht die Einstellung: Als Patient bin ich Teil meiner Genesung!
Wie messen Sie Ihren Erfolg?
Schmerzerleben ist sehr subjektiv. Als offizielles Tool dient der deutsche Schmerzfragebogen, den die Patienten vor Aufnahme, nach Entlassung und noch einmal sechs Monate nach Entlassung ausfüllen. Über die Ergebnisse führen wir eine eigene Statistik. Bei gut einem Drittel der Schmerzpatienten ist der Schmerz nachhaltig gebessert. Das entspricht auch den allgemeinen Studienergebnissen.
Welche Verbesserungen schildern die Patienten?
Vor allem die Kompetenz im Umgang mit dem Schmerz ist oft deutlich besser geworden. Die Beschwerden sind nicht weg, aber sie bestimmen nicht mehr den Alltag. Die Patienten erleben wieder mehr Lebensqualität. Oft geben uns unsere Patienten vielfältig positive Rückmeldungen. Auf dem Portal „Klinikbewertungen.de“ kann man das im Einzelnen nachlesen. Die vielen positiven Rückmeldungen sind wirklich eine schöne Motivation für das ganze Team!
Frau Dr. Empt, vielen Dank für das Gespräch!
Die Fragen stellte Iris Gehrke, Unternehmenskommunikation St. Franziskus-Hospital